Rezension: Delia Liebkurs Roman „Ruth – Dunkle Träume“

Ich bin nicht allein in meinem Kopf.

Wie ein Mantra zieht sich diese Erkenntnis durch die Geschichte, durch das Buch, durch Ruths Leben. Ein Hymnus für den Tod, so präsent, so durchdringlich, dass die Trommelwirbel, die ihn begleiten, im eigenen Kopf erbarmungslos hämmern.

Nur ansatzweise kann man sich vorstellen, was Ruth, die Protagonistin von Delia Liebkurs neuem Roman „Ruth – Dunkle Träume“ durchleben muss. Sie sieht den Tod anderer Menschen. Nicht nur das, sie durchlebt ihn mit allen Sinnen. Immer wieder. Nacht für Nacht. Grund dieses kaum vorzustellenden Schicksals ist ein Kuss. Der Kuss eines Gesichtslosen, einem Monster, das mit seinen Artgenossen die ganze Welt von Ruth terrorisiert. Sie ernähren sich von den Ängsten und den Schreckbildern, die Ruths Leben in einen nie endenden Albtraum verwandeln. 

Die Autorin Delia Liebkur ordnet ihr Werk als Dark Fantasy ein. Und die Dunkelheit ist tatsächlich allgegenwärtig. Die gerade beschriebene Kernidee ist an Düsterkeit nicht zu überbieten. Auch am Titel, Dunkle Träume, sehen wir, was Sache ist. Doch insbesondere das Cover lässt frühzeitig erkennen, wohin die Reise geht. Ein wahrlich meisterhaftes Bild. Wir sehen die Protagonistin von hinten – in Kampf- oder Verteidigungsstellung? Vor ihr und über ihr schwarze Monster, die ihr nach dem Leben trachten. Selten habe ich ein Cover gesehen, das durch seine Farben und die Abbildungen so viel Furcht, Schrecken und Entsetzen auslöst. Gleichzeitig steht Ruth da, sie ist bewaffnet und hat noch nicht aufgegeben – auch wenn der Gegner übermächtig erscheint. Chapeau vor dieser Illustration, die Kern und Wesen der Geschichte in einem einzigen Bild grafisch zusammenfasst.

Auch die Welt außerhalb von Ruths Kopf ist der Finsternis verfallen. Die Menschen müssen Schutz innerhalb der Stadtmauern suchen. Denn nachts treiben sich Wesen herum, die auf Geheiß der Gesichtslosen Menschen zerfleischen. Die Idee ist nicht neu, verzeiht, wenn ich wieder einmal Attack on Titan anbringen muss, in dessen Welt wir ebenfalls Menschen haben, die hinter Mauern leben müssen, weil außerhalb menschenfressende Wesen unterwegs sind. Dennoch kombiniert Delia Liebkur diese Grundidee mit vielen innovativen Einfällen, sodass man niemals das Gefühl hat, dass etwas kopiert wäre. Die High-Fantasy Welt ist neu und lebt von kreierten Wesen wie Stachelhäuter, Gulo, Argali-Bären und widerlich beschriebene Gesichtslose (in meinem Roman gibt es tatsächlich auch Gesichtslose, die schauen aber ganz anders aus;-)).

Angesichts der Gefahren ist es nicht verwunderlich, dass diese Welt von militärischen Strukturen geprägt ist. Auch unsere Protagonistin und ihre Freunde arbeiten für den Schutz der Bevölkerung. 

Weiterer wichtiger Bestandteil der Welt ist der Glaube. Eine religiöse Gruppierung, die sich die Sektierer nennt und die den Gesichtslosen gegenüber eher friedlich gesinnt ist, spielt eine zentrale Rolle. Wie so oft, gibt es eine radikale Splittergruppe innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft, die – so Ruths Theorie – Menschen bewusst ermordet, um diese und die falsch verdächtigen Mörder den Gesichtslosen zu opfern. Du hast gedient, sind die letzten Worte, die sie ihren Opfern zuflüstern. Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamte Geschichte und gehört zu den spannendsten, wie ich finde. Auch die Verflechtung mit den politischen Strukturen ist absolut realistisch und reizvoll. 

Erster Schauplatz der Handlung, die sogleich mit solch einer Opferung eines verdächtigen Mörders startet, ist die Stadt Amsrath. Selten habe ich für eine Stadt Sympathien gehegt. Über Ruths Wahlheimat wird gesagt: 

Amsrath war zäh, etwas eklig, hart im Geben, aber auch im Nehmen. Nicht jeder kam mit dieser ruppigen Art der Stadt zurecht.

Eine Stadt, die wunderbar zu den doch ruppigen Figuren des Romans passt.

Ruth gefällt diese Stadt, viel mehr als ihre eigentliche Heimat. Wir lernen auch diese kennen und erhalten Einblicke in Ruths Vergangenheit und in die Beziehungen, die sie zu den Figuren ihrer Kindheit und Jugend hatte. Abgesehen für ihren alten Freund Wit, hege ich für ausnahmslos alle Antipathie. Ruth ist durch ihren Kuss gekennzeichnet durch ein Mal. Sie hatte es schon durch ihre Träume immer schwer, doch anstatt ihr zu helfen, wird sie verachtet, ausgestoßen, schlimmer, man wundert sich, weshalb sie sich noch immer nicht umgebracht hat und lebt. Ich frage mich: Gehen wir auch in unserer Gesellschaft mit Menschen so um, denen es schlecht geht? Nach unten treten, obwohl sie schon am Boden liegen? Und trotz dieser schmerzhaften Erfahrungen lebt Ruth für andere Menschen. Ohne nachzudenken, eilt sie anderen zu Hilfe. Sie bringt ihr eigenes Leben in Gefahr für andere.  

Dass Ruths Kindheitsbekannte sich über ihre Existenz wundern, ist tatsächlich nicht erstaunlich. Wir erfahren, dass andere Geküsste selten so lange leben. Sie halten es nicht mehr aus mit dem Tod anderer zu leben, sie begehen Suizid. Dass Ruth mit ihren, ich glaube 26 Jahren, noch lebt, steht für ihre wahnsinnige Stärke. Doch sie nimmt Drogen, die ihr Leid geringfügig lindern. Wie schlimm, es wirklich um sie steht, erfahren wir durch einen Brief, den sie selbst verfasst, aber nie abgeschickt hat. Ich zitiere:

Diese Welt kann nicht gerettet werden. Genauso wenig wie ich. Jeden Morgen kämpfe ich mich aus Albträumen. Selbst wenn ich keine neuen Todesängste erfahre –  diese Bilder sind so tief in mir verankert, dass mein Geist sie nachts einfach wieder hervorholt. Immer und immer wieder. Der Teil von mir, der noch immer ich war, ist jetzt auch infiziert. Er besteht nur noch aus Angst, Schmerz und Tod. Sobald ich aufwache, sehe ich diese Bilder vor meinem geistigen Auge. Wach zu sein, ist keine Erlösung mehr. Ich kenne nur noch den Tod. Ich habe Angst.

Ruth

Diese eindrücklichen Zeilen verraten es uns bereits: Egal, wie die Geschichte ausgeht, es wird kein Happy End geben. Das Trauma ist Teil ihrer selbst. Eine erschreckend realistische Schlussfolgerung. Nur wenige fiktive Bücher, die ich gelesen habe, gehen darauf ein, dass die Wunden, verursacht durch die Geschehnisse, auch nach der letzten Seite, weiter pochen. Hunger Games und das Reich der Sieben Höfe fallen mir dazu ein. 

Insgesamt resümiere ich: Wir haben eine sehr authentische, starke und bewundernswerte, aber auch gebrochene Protagonistin. 

Wenden wir uns den anderen Charakteren zu. Ihre beste Freundin Anka tut der Geschichte gut. In all der Düsternis bringt sie Licht, Witz und Charme. Zwar mache ich mir Sorgen, dass sie wegen ihres hohen Bierkonsums, alkoholabhängig ist, aber ich musste doch immer schmunzeln, wenn sie in den verrücktesten Situationen eine Flasche auspackt. Sie verkörpert eine gute Freundin, die sich sorgt und das Wohl ihrer Freundin über das eigene stellt. 

Dagegen kommt Ruths Freund Dom blass daher. Wir lernen ihm am Anfang kurz kennen, ist dann über viele Seiten absent, bis er am Ende mit einer bedeutenden Rolle zurückkehrt. Etwas mehr „Screentime“ hätte ihn gutgetan, um ihn als wirklich wichtigen Charakter zu akzeptieren.

Eik, Ruths Exfreund, ist na ja, schwierig zu sagen. Obwohl es Ruth so schlecht geht, hat er sie sitzen lassen, ist mittlerweile verheiratet und erwartet ein Kind. Kein Sympathiebrocken. Doch er macht eine interessante Entwicklung durch. Besonders spannend ist, wenn wir seine Sicht der Dinge auf die Trennung von Ruth hören. Der eher gefühlskalte Polizist sagt zu Anka:

Wenn man so lange versucht, jemandem zu helfen, es aber zu nichts führt, dann zieht es einen selbst irgendwann so tief runter, dass man nicht mehr aus dem Loch der Selbstzerstörung rauskommt.“ Weiter führt er aus: „Du warst nicht da, wenn sie zitternd und keuchend in aller Früh aufwachte, mit Todesangst in den Augen und schweißgebadet. Du warst nicht da, wenn sie sich auf dem Bett zu einem Häufchen Elend krümmte und vor Weinen kaum atmen konnte. Du hast dir keine Sorgen gemacht, wenn sie plötzlich ein paar Tage weg war, obwohl sie meinte, sie sei am Abend wieder zurück. Du glaubst, du kennst das Ausmaß ihres Zustandes, aber du hast keine Ahnung, wie sehr die Verbindung zu diesem Gesichtslosen sie beeinträchtigt.

Eik

Wenn wir Eik so reden hören, dann müssen wir uns fragen, wie wir in solch einer Situation handeln würden. Selbstaufopferung ist heroisch und bewundernswert. Doch wie wirklichkeitsnah ist es, dass man sein eigenes Lebensglück für eine Beziehung aufgibt? Wann muss man sich selbst wichtiger nehmen als andere? Fragen, auf die ich keine Antwort habe, für die Eik jedoch zumindest für sich eine Antwort gefunden hat. Egal, wie man zu ihm steht, mir hat der Einblick in seine Gedankenwelt geholfen, ihn zu verstehen. 

Eine der interessantesten Figuren ist Sayed. Dennoch möchte ich nichts über ihn verraten, da es zu viel über den Handlungsverlauf offenbaren würde. Nur eines sei gesagt, der Spitzname „Ruru“ für Ruth ist außerordentlich süß.

Neben vielen weiteren Nebenfiguren haben wir ein gutes Repertoire an unterschiedlichen Charakteren, die die Handlung bereichern. Zusammen mit der packenden Geschichte und der gut ausgearbeiteten Welt ein wundervolles Buch.

Einige Kleinigkeiten, die mir aufgefallen sind und Verbesserungspotential haben, würde ich noch gerne aufzählen. Zum einen die Ermittlungen, die Anka und Eik anstellen, um die wahren Mörder zu identifizieren. Der Roman umfasst nämlich noch eine Kriminalgeschichte. Die Erkenntnisse, die sie gewonnen haben, kamen meiner Meinung nach zu schnell. Dass sie von diesem Buch mit den Namen gehört haben, war etwas simpel, auch dass sie von dem Religionsführer relativ schnell die Wahrheit erfahren haben. Zum anderen, empfand ich das Agieren der Soldaten von Verstal am Ende als sehr vorhersehbar.

Ein dritter Punkt betrifft die Gesichtslosen, vor allem aber meinen persönlichen Geschmack. Ich hätte sehr, sehr gerne mehr über die Gesichtslosen erfahren. Die Forscherin Judith, die mit ihrem Trupp die Gesichtslosen erforscht, hat interessante Andeutungen gemacht und spannenden Theorien aufgestellt. Doch die Gesichtslosen bleiben bis zum Ende die Gesichtslosen. Einfach furchterregende Monster, die es zu Töten gilt. Ein letztes Mal bringe ich den Vergleich zur Geschichte von Attack on Titan. Am Anfang ging es nur darum diese schrecklichen Titanen, die die Mutter des Protagonisten aufgefressen haben, zu eliminieren. Mit der Zeit erfahren wir aber Stück für Stück, wer diese Monster wirklich sind und welche Geschichte hinter diesen Monstern steckt. Am Ende muss man sich fragen: Sind diese Monster wirklich Monster? Solch eine Enthüllung gibt Geschichten eine unglaubliche Tiefe und Vielschichtigkeit, die einem den Atem raubt. 

Aber das ist nur mein persönlicher Geschmack. Für die knapp 300 Seiten wäre das sicher auch zu viel. 

Zu guter Letzt noch positive Anmerkungen. Der Schreibstil passt perfekt zu der erzeugten Stimmung im Buch. Immer wieder hören wir Ruths Gedanken, die Kursivschreibung hilft uns, sofort zu erkennen, wenn wir wieder die Geschehnisse in Ruths Kopf mitbekommen. Die Beschreibungen sind nachzuvollziehen, wir erhalten ein gutes Bild von der Welt und den Charakteren und die Dialoge sind authentisch verfasst. 

Das Ende des Buches ist sehr realistisch, aber auch sehr schmerzhaft. Grundsätzlich hat Delia Liebkur die Geschichte passend abgeschlossen.

Ich bedanke mich bei der Autorin für ihr tolles Buch. Ich bin nicht allein in meinem Kopf – denn zu den vielen, vielen Figuren, deren Geschichten ich bisher gelesen habe, gehört nun auch Ruth.

Alle Infos zur Autorin und zum Buch findet ihr unter: https://liebkur.de

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